Co-Abhängigkeit, oder: Über die Sucht, gebraucht zu werden
Gabriele Rudolph, Das innere Kind und die Stille, Ottersberg 2020
Co-Abhängige neigen zu den drei letzteren, den sogenannten "braven" Süchten. Allerdings müssen Co-Abhängige nicht unbedingt in einer Paarbeziehung leben und sie sind auch nicht immer mit Süchtigen zusammen.
Typisch für sie ist einfach, dass sie andere Menschen oder Tiere und deren Wünsche/Bedürfnisse zum Mittelpunkt ihres Lebens machen. Ihr eigenes Leben erscheint ihnen zu langweilig und unbedeutend. Sie können oft auch nicht gut alleine mit sich sein. Erst durch ein Gegenüber, durch Kinder, Partner, Freunde, Menschen oder Tiere, denen sie helfen können, bekommt ihr Leben einen Sinn. Sie suchen nach Anerkennung und opfern vieles dafür, was bis zur völligen Selbstaufgabe führen kann.
Typisch für einen Co-Abhängigen ist die Opfer- respektive die häufig aussichtslose Helferrolle, wohingegen das Gegenüber die Rolle des (Übel-)Täters oder Bedürftigen übernimmt.
Süchtigen wie Co-Abhängigen sind bestimmte Verhaltensweisen gemeinsam, die die Abhängigkeit voneinander aufrechterhalten und wirkliche Nähe zu sich selbst und Anderen unmöglich machen. Denn ein inneres Kind, das gelernt hat, die eigenen Bedürfnisse zugunsten anderer zurückzustellen, um zu überleben und geliebt zu werden, geht davon aus, dass es nur bekommt, was es braucht, indem es sich selbst und andere kontrolliert und manipuliert.
Diese Beziehungen basieren deshalb auf der Aufrechterhaltung unausgesprochener Verträge - nicht auf Ehrlichkeit, Transparenz, Freiheit, Liebe, Selbstverantwortung, gegenseitigem Respekt und Wertschätzung. Sie sind zutiefst unbefriedigend, da die Betroffenen intuitiv spüren, dass das, was sie aufgrund dieser Verträge erhalten, nicht freiwillig und aus Liebe, sondern aus Angst oder scheinbarer Hilflosigkeit gegeben wird und dass der Preis für die Aufrechterhaltung dieser Verträge sehr hoch ist. Und sollte dennoch eine/r die vorgeschriebenen Verhaltensweisen durchbrechen, löst dies tiefsitzende, kindliche Ängste aus, die natürlich nicht offen angesprochen sondern durch endlose Diskussionen, Schuldzuweisungen, Vorwürfe, dramatische Auftritte, Liebesentzug, Erpressung, Machtkämpfe und Aggressionen bis hin zu Gewalt vermieden und ausagiert werden (siehe auch meine Gegenüberstellung von “traumatischen und echten Liebesbeziehungen” in meinem E-Book “Traum(a) und Wirklichkeit”).
Gewöhnlich verlässt dann einer der beiden den anderen und geht eine neue, ähnliche Verbindung ein, in der dasselbe von Neuem beginnt.
Einer der Verträge in solchen Beziehungen lautet: "Ich erlaube dir die Illusion, weiterhin ein abhängiges, hilfloses Kind zu sein, deshalb weckst auch du mich nicht aus meiner co-abhängigen/narzisstischen oder Opfertrance. Da ich nicht bereit bin, in Liebe mit mir, wach, lebendig, selbstverantwortlich und frei zu sein, darfst auch du das nicht sein. Wenn ich nicht darauf bestehe, dass du deine schlechten Angewohnheiten änderst, dann verlässt du mich nicht und bringst mich auch nicht dazu, meine eigenen schlechten Angewohnheiten, impulsiven Gefühlsausbrüche, meine Frustrationsintoleranz und mangelnde Selbstverantwortung zu hinterfragen. Und solltest du es dennoch tun, werde ich dir das Leben sehr schwer machen.”
Diese Art von Tabus sind typisch für destruktive Symbiosen (mehr auch hierzu in “Traum(a) und Wirklichkeit”).
All das macht diese Art von Beziehung höchst unbefriedigend, anstrengend und bedrückend, zugleich aber scheinbar sicher. Allerdings nur “scheinbar”, da alle Beteiligten spüren, dass da etwas nicht stimmt und dass ein Fehltritt heftigste Abwehrreaktionen auslösen kann.
Besonders belastend ist das auch für Kinder, Freunde und andere Angehörige. Sie werden von den Problemen erdrückt und fühlen sich meist nicht in der Lage, gesund damit umzugehen. Tatsächlich tragen sie häufig zur Aufrechterhaltung des Vertrages bei, indem sie die ihnen zugewiesenen Rollen (Helfer, Opfer, Täter) spielen bzw. ebenfalls co-abhängig werden, nur um sich nicht schuldig, bedürftig, klein, ungeliebt, ausgeliefert oder hilflos zu fühlen wie als Kind.
Genesung ist deshalb erst möglich, wenn mindestens eine/r aus einem solchen System bereit ist,
- aus dem Vertrag auszusteigen, d. h. die ungesunde Trance nicht mehr aufrechtzuerhalten,
- sich sich selbst zuzuwenden und Eigenverantwortung zu übernehmen indem er/sie
- sich, seine/ihre Gefühle und Bedürfnisse wahr- und zu sich zurücknimmt und sie offen ausdrückt und damit echte Selbstintimität herstellt anstatt starre, ungeschriebene Regeln befolgt,
- alles in seiner/ihrer Macht stehende tut, um die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen (anstatt sie kontinuierlich zu übergehen, faule Kompromisse einzugehen oder zu erwarten, dass es andere für ihn/sie tun)
- und sich dabei gegebenenfalls kompetente Hilfe zu holen,
- sich nicht mehr missbrauchen zu lassen noch zu missbrauchen, das heißt eigene Grenzen wie die des Gegenübers wahrzunehmen und zu respektieren,
- mit sich und dem Partner ehrlich zu sein,
- Probleme anzusprechen und zu lösen anstatt sie zu ignorieren, zu verharmlosen oder sich davon abzulenken (auszuklinken),
- oder, insofern das Gegenüber dazu (noch) nicht bereit ist, sich aus der jeweiligen Beziehung kurz- oder langfristig zurückzuziehen
- Streitigkeiten ebenso wie Verstrickungen zu vermeiden (“Streitausstieg”) * die eigene Unabhängigkeit zu stärken respektive zu wahren,
- die Glaubens- und Verhaltensmuster des verletzten inneren Kindes bzw. lieblosen, inneren Erwachsenen zu hinterfragen,
- sich evtl. dahinterstehende Traumata bewusst zu machen und zu erlösen und
- zu erwachen aus dem Traum(a), jemand zu sein, der abhängig, ungeliebt oder besonders ist und sich, andere respektive das Leben kontrollieren kann und/oder muss
- und sich ein Umfeld an bewussten, gesund und klar denkenden, fühlenden und lebenden, das heißt wachen Menschen zu suchen, ein Umfeld, das sich nicht in diese Art von Abhängigkeit zu verstricken bereit ist, wodurch es möglich ist, neue, konstruktive, gesunde und vor allem nährende Erfahrungen zu machen und dadurch Rückfälle zu verhindern.
Allerdings reicht es gewöhnlich nicht, wenn nur eine/r an sich arbeitet, da das Gegenüber, wenn es nicht auch an Veränderung und Wachstum interessiert ist, diese kontinuierlich versuchen wird, zu sabotieren bzw. zu bekämpfen.
Insofern ist es häufig unvermeidlich, die Beziehung zur Disposition zu stellen, da es sonst zu einem jahrelangen, zermürbenden Kampf sowie fortwährenden on/off-Beziehungen kommt angesichts der zunehmenden Erkenntnis, dass das, was da abläuft, sehr destruktiv und psychisch wie körperlich ungesund ist (psychosomatische Beschwerden bei den beteiligten Erwachsenen wie Kindern sind Alltag in dieser Art von Beziehung) und der gleichzeitigen Angst vor einer Trennung und der damit zusammenhängenden Konsequenzen.
Wenn diese aber vollzogen ist, wird das erfahrungsgemäß als enorme Befreiung und Erweiterung der eigenen Handlungskompetenzen erlebt.
Ein freier, bewusster Mensch hat natürlich auch Interesse an dem Wohlwollen seiner Mitmenschen - in dem Bewusstsein, dass er und sie nicht getrennt sind, d. h. dass wenn er seinem Gegenüber schadet, auch sich selbst und der Beziehung schadet. Der Unterschied ist allerdings, dass er immer zuallererst mit sich selbst verheiratet ist, sich selbst hält, reguliert, reflektiert, kurz: für sein Glück selbst Verantwortung übernimmt und dies - ganz natürlich - auch von seinem Gegenüber erwartet.
In anderen Worten: Ein solcher Mensch hat kein Interesse daran, ständig den Helfer, Therapeuten, Retter die Mama oder den Papa für ihren/seine PartnerIn oder andere zu spielen. Aber gerade deshalb ruht er in sich, ist zufrieden, glücklich und in Liebe - mit sich und seiner Umwelt.
So ist auch sein Wohlwollen echt und basiert nicht auf dem Glauben daran, ein kleines, verlorenes, hungriges Kind zu sein, das etwas braucht, gewinnen oder vermeiden muss, um endlich glücklich und erfüllt zu sein.
Er handelt und gibt deshalb nicht aus Angst vor Verlust oder aus der Abwehr von scheinbarem Mangel, das heißt, er handelt nicht aus einer Überlebenstrance heraus, sondern aus tiefem Mitgefühl, dem Erleben unendlicher Fülle, der Freude, ja, dem Bedürfnis danach, etwas von zu dem zu verschenken, was ihm so reichlich gegeben ist.
Das ist anders - ganz anders. Das ist bedingungslose Liebe - in Aktion.
Gabriele Rudolph
© aus dem E-Book: "Das innere Kind und die Stille"
Kommentare
Kommentar veröffentlichen